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Online-Diskussion: „30 Jahre deutsch-kasachische bilaterale Beziehungen – Rolle und Perspektiven der deutschen Minderheit“
27. Mai 2022
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v.l.oben : Dr. Beate Eschment, Hartmut Koschyk, Thomas Helm, Galina Nurtasinowa, Yevgeniy Bolgert, Bernard Gaida

Anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Aufnahme bilateraler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kasachstan veranstaltete die Stiftung Verbundenheit in Kooperation mit Deutsch-Kasachischen Gesellschaft und der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten (AGDM) in der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN) eine Onlinediskussion zum Thema „30 Jahre deutsch-kasachische bilaterale Beziehungen – Rolle und Perspektiven der deutschen Minderheit“.

An der von dem Vorsitzenden der Deutsch-Kasachischen Gesellschaft e.V. Thomas Helm moderierten Diskussion nahmen teil: der Vorsitzende des Aufsichtsrats der gesellschaftlichen Stiftung Vereinigung der Deutschen Kasachstans „Wiedergeburt“, Yevgeniy Bolgert, die Zentralasienexpertin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien, Dr. Beate Eschment und die Geschäftsführerin der Deutsch-Kasachischen Gesellschaft e.V. aus Ost-Kasachstan, Galina Nurtasinowa. Nach einleitenden Worten des Moderators äußerten sich der Ratsvorsitzende der Stiftung Verbundenheit, Hartmut Koschyk und der Sprecher der AGDM , Bernard Gaida, in Grußworten.

Thomas Helm

Seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen am 11. Februar 1992 sind die deutsch-kasachischen Beziehungen sehr eng. Den Grund hierfür sieht Thomas Helm nicht zuletzt in der deutschstämmigen Minderheit, die in den letzten 30 Jahren stets ein verbindendes Element zwischen beiden Staaten gewesen sei. Helm charakterisiert die bilateralen Beziehungen als „vertrauensvoll und verlässlich“, auch und gerade, was die Bemühungen um Wiederbelebung und Erhalt der deutschen Sprache und Kultur anbelangt In der Mehrheit sind die Deutschen Kasachen Abkömmlinge während des Zweiten Weltkrieges unter stalinistischer Herrschaft deportierter Wolgadeutscher. Zum Zeitpunkt der kasachischen Unabhängigkeit 1991 zählten sie etwa eine Million, was fünf Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. Trotz der hohen Auswanderungszahlen in den 1990er Jahren ergab, so referierte Bernhard Gaida während seines Grußwortes, eine Volkszählung im Jahr 2003 eine Gesamtzahl von 300000 Deutschstämmigen (Heute ca.175000), die vor allem im Norden des Landes lebten. Das Nebeneinander einer großen Zahl nach Deutschland Ausgewanderter und einer signifikanten, in Kasachstan verbliebenen Minderheit habe eben jene „lebendige Brücke“ geschaffen, „die zu einer soliden Grundlage für die diplomatischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen den beiden Ländern“ geworden sei.
Diese soliden Beziehungen sind in ihrer Konstanz um so bemerkenswerter, als Kasachstans Entwicklung seit der Unabhängigkeit Phasen dramatischen wirtschaftlichem und sozialem Wandel unterworfen war. Thomas Helm konstatiert vier „Zeitenwenden“ seit dem Ende der Sowjetunion: in den 1990er Jahren lag die Wirtschaft darnieder, in dieser Phase verließen vier von fünf deutschstämmigen Kasachen das Land. In den 2000ern stabilisierte sich die Wirtschaft vor allem dank des Öl-Booms, was die Auswanderungswelle nahezu stoppte. 2014/2015 begann eine wirtschaftliche Transformation. Im Januar 2022 kam es insbesondere um Almaty zu Protesten, die die Regierung um Präsident Toqajew veranlasste, weitreichende Reformen anzukündigen und über diese am 5. Juni in einem Referendum abstimmen zu lassen.

Hartmut Koschyk

Seit dem 1. Januar diesen Jahres ist die Stiftung Verbundenheit für das Bundesinnenministerium als Mittlerorganisation für die Unterstützungspolitik der Bundesregierung gegenüber der deutschen Minderheit in Kasachstan verantwortlich. Die verschiedenen Phasen der Kasachischen Entwicklung haben immer auch direkte Auswirkungen auf die deutsche Minderheit und seien daher, wie Hartmut Koschyk in seinem Grußwort darlegt, für die Stiftung von hohem Interesse.

Yevgeni Bolgert

Der Bericht von Yevgeni Bolgerts, Aufsichtsratsvorsitzender der Stiftung Wiedergeburt, gab einen Überblick über die erfolgreiche Arbeit der Stiftung: die Entwicklung des Kasachisch Deutschen Zentrums (KDZ), das sich erfolgreich als Dialogplattform für Wirtschaft etabliert hat, sowie die Eröffnung des Deutschen Hauses in Pavlodar. Zudem gelang es, mit dem Bildungsministerium zu einer Vereinbarung zu kommen, die einen Ausbau der Sprachförderung für die deutsche Minderheit vorsieht. Er berichtete außerdem, dass die Stiftung Wiedergeburt Präsident Toqajews Reformplan „Aufbau eines neuen Kasachstans“ und damit auch das Referendums unterstützt und in enger Zusammenarbeit mit Volksversammlung Kasachstans steht.

In einem biographisch gefärbten Beitrag behandelte Galina Nurtasinowa aus historischer Perspektive die Aufarbeitung des zu Sowjetzeiten erlittenen Unrechts, das die Biographie vieler deutschen Kasachen prägt. Während und nach dem zweiten Weltkrieges wurden deutschstämmige Russen verschleppt und zur Zwangsarbeit in der Trudarmee gezwungen. Die Thematisierung dieser Verbrechen war erst zu Zeiten der Perestroika möglich. Gleiches galt für jegliche Form der Repression durch den Sowjetstaat. Mit der Perestroika rückten diese Themen im allgemeinen Diskurs in den Vordergrund. Nach der Unabhängigkeit wurden den Opfern sogar Reparationen gezahlt. Mehr noch: es fand eine Aufarbeitung statt.
In diesem Klima nahm das öffentliche, kulturelle und politische Leben der Deutschen wieder Formen an: Mit „Freundschaft“ wurde wieder eine deutschsprachige Zeitung gegründet, aus der später die Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) wurde. Als Amts- und Verkehrssprache legte die junge, kasachische Republik Russisch fest. In dem multiethnischen Staat vermied man so die Benachteiligung einer bestimmten Volksgruppe zu Lasten einer anderen.

Dr. Eschment behandelte schließlich die außenpolitische Situation Kasachstans vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts. Sie zeigte eine Reihe von Parallelen zwischen der Ukraine und Kasachstan auf: hier wie dort existiere neben einem augenscheinlich asymmetrischen politischen wie militärischen Kräfteverhältnis und einer langen gemeinsamen Geschichte das Problem einer russischen Minderheit im Land, die in den nördlichen Grenzregionen zu Russland die Bevölkerungsmehrheit bildet und in deren Reihen es separatistische Tendenzen gibt. Bemerkenswerterweise versuche Präsident Toqajew einen vorsichtig eigenständigen politischen Kurs gegenüber dem Nachbarland zu fahren. Hierbei sei es für Kasachstan von zentraler Bedeutung, drängende soziale Fragen zu lösen und durch wirtschaftlichen Aufschwung einen Zustand weitestgehender innenpolitischer Stabilität zu erreichen. Nur so ließe sich der begonnene, eigenständige Kurs gegenüber Russland fortführen, ohne sich gegenüber Russland und China angreifbar zu machen. In diesem Punkt solle man Kasachstan nach Möglichkeit unterstützen.

Die Panelisten beschlossen ihre Analyse mit einem Blick in die Zukunft und auf das Referendum: Insbesondere die Möglichkeiten, die eine freiere Parteienlandschaft und mehr noch die Schaffung eines Verfassungsgerichts der kasachischen Gesellschaft an demokratisch-rechtsstaatlichem Entwicklungsraum liefern könnten, lassen hoffen.
Abschließend brachte Hartmut Koschyk die Dinge auf den Punkt: Die Situation in Kasachstan bleibe, im Hinblick auf das Referendum spannend, die geostrategische Bedeutung des Staates habe im Zuge des Ukrainekonflikts noch zugenommen.

Sehen Sie hier das Video der Onlineveranstaltung in voller Länge: 

Ein von unserem Projektleiter Dr. Marco Just Qiles erstelltes Video mit Impressionen aus Kasachstan:

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Florian Schmelzer

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