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Online-Diskussion „Deutsche Minderheit im Krieg. Wie geht es ethnischen Deutschen in der Ukraine?“
17. Juni 2022
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Mit dem Ziel, die Lage der deutschen Minderheit in der Ukraine in verschiedenen, von direkten Kriegseinwirkungen in sehr unterschiedlichem Maß betroffenen Gebieten des Landes darzustellen und so einer, nach nunmehr über 100 Kriegstagen eintretenden einer Gewöhnung oder gar Abstumpfung, veranstalteten die Stiftung Verbundenheit und die Arbeitsgemeinschaft deutscher Minderheiten (AGDM) in der Föderalistischen Union Europäischer Nationalitäten (FUEN) am 15. Juni 2022 eine Onlinediskussion zum Thema: „Deutsche Minderheit im Krieg. Wie geht es ethnischen Deutschen in der Ukraine?“

Moderiert von Dr. Marco Just Quiles, dem Projektleiter der Ukraine-Hilfe der Stiftung Verbundenheit, diskutierten der Präsidiumsvorsitzende und Vorsitzende des Rates der Deutschen in der Ukraine (RDU), Wladimir Leysle, die Vorsitzende der Deutschen Jugend in der Ukraine, Diana Liebert, der deutsche Honorarkonsul in Czernowitz, Mitglied des RDU, Alexander Schlamp, die stellvertretende Bürgermeisterin von Mukatschewo und Leiterin der deutschen Jugend Transkarpatien, Julia Taips, der Pfarrer der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Odessa in der Ukraine, Alexander Gross und Aleksandra Litschagin, Projektkoordinatorin der Stiftung Verbundenheit für die Ukraine. Im Verlauf der Diskussion wurden zudem zwei kurze Videos gezeigt: eines, das die Sprach- und Kulturarbeit der deutschen Minderheit in friedlichen Zeiten  illustriert und ein Musikvideo der deutschstämmigen ukrainischen Künstlerin INGRET.
Die Veranstaltung begann mit Grußworten des Ratsvorsitzenden der Stiftung Verbundenheit, Hartmut Koschyk und dem Sprecher der AGDM in der FUEN, Bernhard Gaida.

Hartmut Koschyk

Hartmut Koschyk betonte die Verantwortung der Stiftung als Mittlerorganisation für das BMI für die deutsche Minderheit und rief dazu auf, angesichts der zunehmenden Dauer des Krieges nicht gleichgültig zu werden. Er bedankte sich für die Möglichkeit, in Gesprächen die unmittelbar vor Ort gewonnenen Eindrücke der allgemeinen Lage, wie auch der Lage der deutschen Minderheit, an wichtige Repräsentanten der Bundesregierung weitergeben zu können. In diesem Zusammenhang bedankte er sich bei der Bundestagsabgeordneten aus Bayreuth, der Parlamentarischen Staatssekretärin Annette Kramme (SPD), der parlamentarischen Staatssekretärin im Bundesministerium des Inneren Rita Schwarzelühr-Sutter. In den vergangenen Wochen informierte die Stiftung Verbundenheit derzeitige und ehemalige Regierungsvertreter über ihre Hilfsaktion „Humanitäre Brücke Oberfranken Transkarpatien“. Der ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für Vertriebene und nationale Minderheiten sowie Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen Bernd Fabritius (CSU), Wladimir Leysle und der Vorsitzende der Assoziation der Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion Johann Thießen begleiteten die Stiftung sogar mit einem Hilfstransport nach Transkarpatien. Des Weiteren kam es zu einem Gespräch mit Fabritius` Nachfolgerin Natalie Pawlik (SPD), bei dem auch Wladimir Leysle und Bernard Gaida Gelegenheit zum Meinungsaustausch hatten. Auch bei ihr habe man großes Mitgefühl gespürt. Sie stellte einen persönlichen Besuch in der Region in Aussicht. Vor Ort habe Koschyk festgestellt, dass im Bereich der humanitären Hilfe gerade von der deutschen Minderheit viel geleistet wurde. Hier hob er insbesondere die Arbeit von Julia Taips und der Deutschen Jugend Transkarpartiens hervor.

Bernard Gaida

Bernard Gaida dankte der Stiftung Verbundenheit für ihre Bemühungen und berichtet von den Hilfsleistungen der AGDM, bei denen sich ohne große Organisation spontan ein Netzwerk aus Mitgliedern deutscher Minderheiten in der Slowakei, in Rumänien und in Polen gebildet habe, um Familien bei der Flucht aus der Ukraine zu begleiten. Er mahnte mehr Flexibilität bei der Förderung durch das Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI) an und schloss mit der Feststellung, die Ukrainehilfe sei „ein Marathon und kein Sprint“.

Diana Liebert

Die Vorsitzende der Deutschen Jugend in der Ukraine, Diana Liebert berichtet aus Lwiw/ Lemberg in der Westukraine, einem Knotenpunkt und einer Durchgangsstation der Flucht insbesondere in den ersten Kriegstagen. Derzeit hielten sich in Lemberg etwa 45.000 Binnenflüchtlinge auf, die Stadt, größtenteils in Schulen und Universitäten untergebracht. Die Stadtverwaltung sei jedoch bemüht ihnen angenehmere Unterkünfte zuteilen zu können. Mittlerweile kämen sogar mehr Menschen in die Ukraine zurück als Menschen die Ukraine verlassen. Im September starte zudem der Onlineunterricht wieder.

Alexander Gross

Pastor Alexander Gross berichtete von den von ihm betreute Gemeinden in und um Odessa. Hier habe sich insbesondere am Anfang des Krieges der Alltag schwierig gestaltet: Lebensmittel seien schwer erhältlich gewesen, auch Benzin habe ein Problem dargestellt. Gerade zu Beginn seien viele seiner Gemeindemitglieder geflohen, vor allem aus der Stadtbevölkerung (80-90%), die Dorfbevölkerung habe sich resilienter gezeigt, sei jedoch wenn sie geflohen seien, für immer geflohen. Was die humanitäre Hilfe betrifft, mahnte er an, es sei besser, mit Geld zu helfen, da so Lebensmittel auf dem ukrainischen Markt eingekauft und dieser unterstützt werden könne.

Alexander Schlamp

Alexander Schlamp schilderte die Lage in Cernowitz: obwohl man bisher von Raketen und Bombenangriffen verschont geblieben sei, erinnere ihn die Lage an die Gespräche älterer Minderheitsangehörige, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hatten. Er selbst habe nie gedacht, so etwas auch erleben zu müssen. Er sei als Honorarkonsul erstaunt, dass der Großteil der deutschen Minderheit, aber auch viele Bürger der Bundesrepublik bisher geblieben sein.

Julia Taips

Auf die Frage, ob sich durch ihr Engagement und das der Deutschen Jugend Transkarpartien die Sicht der Mehrheitsgesellschaft auf die deutsche Minderheit gewandelt habe, meinte die jüngst zur stellvertretenden Bürgermeisterin von Mukatschewo berufenen Julia Taips, die deutsche Minderheit habe tendenziell schon immer einen guten Ruf genossen. Sie schilderte die Bemühungen und Errungenschaften der Deutschen Jugend Transkarpatien angesichts der Tatsache, dass sich insbesondere die Hauptstadt Uschgorod zu einem Zentrum der Binnenflucht entwickelt hat. Man habe ein humanitäres Zentrum für Binnenflucht geschaffen, leiste humanitäre Transporte bis an die Front, biete weiterhin Deutschkurse für die Minderheit an und leiste weiterhin soziale Hilfe für Kranke oder verarmte Angehörige der Minderheit. Viele Geflüchtete litten an Perspektivlosigkeit, entwickelten Depressionen und benötigten psychologische Hilfe.

Wladimir Leysle

Wladimir Leysle betonte aus Kiew, der Krieg gegen die Zivilbevölkerung sei Realität, man habe viele Opfer zu beklagen und große Teile des ukrainischen Kulturerbes seien unwiederbringlich zerstört. Er dankte für die geleistete Unterstützung für die deutsch Minderheit, ob die Dagebliebenen oder die Geflüchteten, wobei er anmerkte dass bislang etwa 80% der Minderheit geblieben sei. Er mahnte schnelle Aufbauhilfe, noch vor dem Winter, an. Eine Möglichkeit, angesichts von Krieg und Inflation Perspektiven zu schaffen und die Wirtschaft zu stärken, sei es Ausrüstung zu senden, die den Aufbau von kleinen Privat- oder Familienbetrieben ermöglichen könne.

Aleksandra Litschagin

Aleksandra Litschagin berichtet aus dem Innenleben der Stiftung und den Auswirkungen des Krieges auf ihre Arbeit. Der Krieg habe die Projektarbeit vollkommen verändert. Man sei, aufgrund des großen Bedarfs an sozialer Hilfe viel mit Umwidmungsvorgängen hin zu sozialen Projekten beschäftigt. Für das nächste Jahr arbeite man mit doppelter Planung: einmal mit einmal ohne Andauern des Krieges. Man habe vieles ins Digitale verlegt, so seien die Deutschkurse bereits jetzt vollständig digital. Insgesamt habe die deutsche Minderheit viel Erfahrung auf diesem Gebiet und sei in der Lage dies zu leisten. Der Schwerpunkt der absehbaren Zeit sei jedoch soziale Hilfe.

Ein schwieriges Thema sprach Alexander Gross an: das positive Verhältnis eines Teils der deutschen Minderheit zu Russland. Dies betreffe, so Gross vor allem aus Zentralasien eingewanderte Teile der Minderheit, die dank Medienpropaganda und der Verweigerung gegenüber dem Ukrainischen ein sehr positives Putinbild bewahrt haben. Teils seien sie angesichts des Krieges auf eine neutrale Position umgeschwenkt, aber das Problem sei weiterhin auch in seinen Gemeinden, sogar in seiner eigenen Familie präsent. In der Gemeindearbeit müsse er daher auf politische Diskussionen verzichten. „Wir brauchen Zeit, um wieder miteinander sprechen zu können“.

Von großer Wichtigkeit ist auch die Frage, die Moderator Dr. Marco Just Quiles an Alexander Schlamp stellte: Hat Deutschland beziehungsweise die deutsche Minderheit angesichts der Zögerlichkeit in puncto Waffenlieferungen innerhalb der deutschen Minderheit an Ansehen verloren?
Schlamp beantwortete die Frage doppelt: was die Ukrainer generell anbelange müsse man ihr Unverständnis akzeptieren, wenn sie die Worte „Putin verstehen“ vernehmen. Für die Ukrainerdeutschen, die immer eine Brücke zwischen den Ländern dargestellt haben sei es bedeutend schwieriger: Man werde nach dem Krieg hoffentlich Erklärungen hören, die die Rolle Deutschlands während des Krieges erklären und vorher nicht ausgesprochen werden konnten. „Wir werden diese Worte hören und uns hoffentlich nicht schämen.“

Dr. Marco Just Quiles

Moderator Just Quiles wies an dieser Stelle auf die positive Rolle der deutschen Zivilgesellschaft und einen erst kürzlich erfolgten Besuch der Staatsministerin für Medien und Kultur, Claudia Roth in Odessa hin, um die Vielfalt des Handelns deutscher Staatsorgane zu unterstreichen.

Auf die Frage, ob der Krieg und die daraus erwachsenen Kontakte zu anderen europäischen Nationen die deutsche Minderheit näher an Deutschland gebracht habe, antwortete Julia Taips, es habe vor dem Krieg ein extrem positives Deutschlandbild insbesondere unter ukrainischen Jugendlichen existiert, ein Bild, das auch die Deutsche Jugend Transkarpatiens mit dem Verweis auf die Hilfe die Deutschland der Ukraine leiste, zu verbreiten versucht habe. In der Tat werde auch sie jetzt des Öfteren auf die Thematik der ausbleibenden Waffen angesprochen. Die Reaktion darauf sei schwierig, sie versuche dies stets mit dem Hinweis auf die große Hilfsleistung der deutschen Zivilgesellschaft zu lösen.

Das Schlusswort hatte wiederum Hartmut Koschyk der zunächst die deutsche Minderheit als Teil einer starken ukrainischen Zivilgesellschaft lobte und darauf hinwies, wie wichtig klare, auch in dieser Diskussion formulierten Erwartungen an die Bundesregierung seien, wie zum Beispiel, dass die Ukraine in ihrem Kampf um europäische Werte, in ihrem Abwehrkampf auch die vom deutschen Bundestag bereits genehmigten Waffen benötigt.
Auch in Deutschland bedürfe es einer starken Zivilgesellschaft, um Akteure wie die Stiftung Verbundenheit, die AGDM und andere, die sich allen Menschen in der Ukraine verbunden fühlen, ob deutsch oder nicht, zu unterstützen. Man brauche Hilfe, um Hilfe leisten zu können.
Er zog historisch Parallelen zur Befreiung Deutschlands durch die Alliierten: Man stünde vor neuen Entscheidungen, „ob die Errungenschaften von Freiheit und Demokratie, ob diese Ideale in und mit der Ukraine für ganz Europa verteidigt werden und in diesem großen Netzwerk des Einsatzes für Freiheit, Demokratie, Menschenwürde, Menschenrechten wollen auch wir uns einreihen.“
Mit Blick auf die Deutsche Minderheit erklärte er: „eine solche Minderheit aus einem solchen, um sein Überleben ringenden Land verdient jede Unterstützung.“ Sowohl AGDM als auch die Stiftung Verbundenheit möchten als Sprachrohr der deutschen Minderheit dienen, die uns viel zu sagen habe. „Hören wir auf sie! …Слава Україні!“

Sehen Sie hier das Video in ganzer Länge:

Sehen Sie hier das Video über die deutsche Minderheit und ihre Sprach- und Kulturarbeit:

Sehen Sie hier das Video der deutschstämmigen ukrainischen Künstlerin INGRET:

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Florian Schmelzer

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